Kalte Progression abschaffen – ganz oder gar nicht

Progressiver Tarif

Im Bereich der Einkommensteuer und der Lohnsteuer gibt es in Österreich, wie auch in den meisten anderen westlichen Ländern, einen progressiven Tarif. Das Einkommen wird also nicht zu einem festen Steuersatz versteuert, sondern jeweils höhere Einkommensteile werden immer höheren „Grenzsteuersätzen“ in genau definierten Tarifstufen unterworfen. In Österreich bleiben beispielsweise Einkommensbestandteile unter € 11 000 steuerfrei, danach steigen die Steuersätze seit der letzten Steuerreform auf 25 %, 35 %, 42 %, 48 %, ab € 90 000 schließlich 50 % oder über € 1 Million (derzeit bis 2020 befristet) sogar 55 %. Dadurch ergibt sich eine treppenförmige Tarifstruktur, und der durchschnittliche Steuersatz steigt bei höherem Einkommen auch entsprechend an.

Das Problem der “kalten Progression”

Inflation stellt dabei aber ein systematisches Problem dar, denn wenn Löhne, Gehälter und Einkommen aufgrund der Teuerung steigen, dann rutschen die Steuerpflichtigen mit Teilen ihres Einkommens unter Umständen in höhere Tarifstufen, sodass die prozentuale Steuerbelastung dadurch steigt, ohne dass die Kaufkraft der Einkommen und damit die steuerliche Leistungsfähigkeit der Betroffenen gestiegen ist.

Dabei kann es nun zu verschiedenen Schwierigkeiten kommen:

  • Gleichmäßigkeit der Besteuerung: Nicht alle Steuerpflichtigen sind gleichermaßen betroffen. Wer aufgrund eines niedrigen Einkommens keine Steuer bezahlt und die Tarifstufe nicht überschreitet, zahlt weiterhin nichts. Wer vorher ein Einkommen erzielt hat, dass gerade noch knapp unterhalb eines Grenzbetrages gelegen ist, wird möglicherweise besonders stark belastet.
  • Stabilität/Resilienz: Es kommt zu einer schleichenden Erhöhung der Steuerlast, auch wenn die Realeinkommen gar nicht gestiegen sind. Langfristig betrachtet würden alle Steuerpflichtigen schließlich sogar in die höchste Steuerstufe aufsteigen, wenn man nur lange genug zuwartet.
  • Effizienz: Das Steuersystem wird durch diese kalte Progression immer weniger „elastisch“, weil nach und nach über die Jahre hinweg alle Menschen in höhere Tarifstufen rutschen. Dadurch werden auch konjunkturelle Schwankungen weniger stark durch das Steuersystem automatisch stabilisiert.

Positiv für die Vermarktung der Politik ist jedoch, dass allein durch die Inflation automatisch zusätzliche Einnahmen in das Budget gespült werden, die entweder für Mehrausgaben herangezogen oder alle paar Jahre in eine (möglicherweise nur kosmetische) Steuerreform investiert werden können, bei der dann im Tarif nur das korrigiert wird, was durch die kalte Progression an Mehrbelastung hinzugekommen ist.

Aufgrund der oben genannten nachteiligen Auswirkungen der kalten Progression, wurde in Österreich schon lange vor der letzten Steuerreform immer wieder und teilweise recht ausgiebig über eine Abschaffung der kalten Progression diskutiert. Diese Übung wäre an sich nicht kompliziert: es müssten nur alle Tarifstufengrenzen regelmäßig und automatisch an die Inflation angepasst werden. Rein nominelle Einkommenserhöhungen hätten damit keine Progressionseffekte mehr zur Folge, darüberhinausgehende Einkommenserhöhungen würden nach wie vor zu einer entsprechenden Vorrückung in der Progression führen. Für die Komplexität der Steuerberechnung spielt das keine Rolle, denn niemand rechnet sich heutzutage einen Steuerbetrag händisch oder anhand der guten alten „Lohnsteuertabellen“ des letzten Jahrhunderts aus.

Kalte Progression und Umverteilung

Die österreichische Diskussion geht aber leider am Kern dieses grundsätzlich einfach zu lösenden Problems vorbei, und so wird in diesem Zusammenhang anstelle der Themen Effizienz, Stabilität, Resilienz und Gleichmäßigkeit der Besteuerung über ein Thema diskutiert, das mit der Problematik *kalter* Progression rein gar nichts zu tun hat: Umverteilung.

Denn genau Fragen der Umverteilung sollen ja durch einen progressiven Steuertarif angesprochen und umgesetzt werden. Wer mehr verdient, zahlt ja eben nicht proportional mehr Steuer, sondern überproportional (= progressiv). Das entspricht auch einem weitgehenden Konsens in Österreich (wenn man von schwer umzusetzenden vereinzelten Forderungen nach einer Flat Tax absieht). Genau durch die Progression im Tarif selbst kommt es ja bereits zu der offensichtlich gewünschten Umverteilung. Indem nun die kalte Progression (also eine schleichende Veränderung der Progression) verhindert wird, kann man genau diese erwünschte Verteilungswirkung konstant aufrechterhalten, ohne dass es eben zu unerwünschten und nicht kontrollierbaren Veränderungen genau dieser Verteilungsfunktion des Steuersystems kommt. Wer sich also zur Umverteilungswirkung eines progressiven Steuersystems bekennt, der muss rein logisch auch ein Interesse daran haben, dass diese Umverteilungswirkung stabil bleibt.

Auch wäre es in diesem Zusammenhang sinnwidrig, zu beklagen, dass jene, die keine Steuern zahlen, von den „Erleichterungen“ der Abschaffung der kalten Progression nicht profitieren – der Tarif sieht ja schon eine Umverteilung in dem Sinne vor, dass eben keine Steuern zu zahlen sind. Außerdem bringt die Abschaffung der kalten Progression keine „Erleichterungen“, sondern verhindert lediglich eine schleichende Mehrbelastung. Wer also keiner Steuer(mehr)belastung durch die kalte Progression ausgesetzt ist, leidet eben auch finanziell nicht darunter und muss daher davor auch nicht geschützt werden. Im Falle der Einschätzung, dass die Verteilungswirkungen des Steuersystems nicht unseren gesellschaftspolitischen Vorstellungen entsprechen, müsste der Tarif selbst entsprechend explizit korrigiert werden (es ist davon auszugehen, dass die Bundesregierung im Zuge der letzten Steuerreform dazu eigentlich die Gelegenheit hatte) – aber nicht auf eine diffuse Verschiebung der Steuerlasten über nicht vorhersehbare inflationäre Prozesse im Zeitverlauf spekuliert werden.

Ganz – oder gar nicht

Die Stabilität der Verteilungswirkung ist auch schon das größte logische Problem bei den derzeit in Diskussion befindlichen Kompromissen. Die typisch österreichische Lösung könnte nämlich darauf hinauslaufen, dass nur die unteren Tarifstufen automatisch an die Inflation angepasst werden, die oberen Tarifstufen aber nicht. Was sich auf den ersten Blick wie ein praktikabler Mittelweg darstellt, ist jedoch inhaltlich ein gravierender Holzweg. Wenn nämlich die unteren Tarifstufen mit der Inflation Jahr für Jahr angehoben werden, die oberen Stufen aber gleichbleiben, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis die unteren Stufen die oberen gewissermaßen eingeholt haben. Es würde dann das Paradoxon entstehen, dass irgendwann eine niedrigere Steuerstufe ab dem gleichen Betrag wirksam wird wie die höhere – eine Situation, die freilich in einem Steuertarif logisch undenkbar ist. Spätestens dann müsste es zu einer umfangreichen strukturellen Tarifreform kommen, in der Praxis wird aber schon vorher die Progression so verzerrt werden, dass der Tarif praktisch unbrauchbar wäre.

Eine teilweise Abgeltung der kalten Progression würde den Steuertarif also nicht „stabiler“ und planbarer machen, sondern würde im Gegenteil schon heute das Erfordernis zukünftiger Korrekturmaßnahmen ein zementieren. In diesem Fall gilt also „ganz oder gar nicht“ – eine nur teilweise Valorisierung der Tarifstufen wäre nicht nur der klassische halbherzige österreichische Kompromiss, der den einen zu wenig weit geht und den anderen viel zu weit, sondern schlicht und einfach kontraproduktiv, weil das System dadurch nur labiler und inkonsistenter würde.