Unternehmerisches Risiko – Unternehmertum als “Versicherung”

Wertschöpfungsprozess und unternehmerisches Risiko

Selbständige und unselbständige Arbeit spielen im Rahmen des Wertschöpfungsprozesses in ihrem Zusammenwirken eine entscheidende Rolle – nur mit Hilfe beider Komponenten kann Wirtschaftsleistung erzielt werden. Viel genannt wird in diesem Zusammenhang auch das unternehmerische Risiko – dessen positiven Aspekte allerdings in der Literatur fast immer nur in den Bereichen Innovation, Wirtschaftsdynamik oder Gewinnpotenzial gesehen werden. Dabei gibt es noch eine ganz andere positive Seite, wenn selbständige und unselbständige Arbeit in ihrem Zusammenspiel betrachtet werden.

Warum durch Risikoübernahme der Kuchen größer wird…

In vielen Fällen sind wir es gewöhnt, dass Situationen ein Null-Summen-Spiel ergeben: isst zum Beispiel eine Person eine Wurstsemmel, dann kann niemand anderer diese Wurstsemmel ebenfalls essen. Bekommt der eine mehr, dann oft der andere weniger. Allerdings gibt es in der Wirtschaft einige wenige Ausnahmen von dieser Regel. Eine der wichtigsten besteht darin, wenn Situationen unsicher sind und es irgendwie gelingt, diese unberechenbare Unsicherheit in ein kalkulierbares Risiko oder sogar noch besser in Sicherheit umzuwandeln.

Das lässt sich an einem einfachen Beispiel erläutern. Angenommen, wir haben die Wahl zwischen zwei verschiedenen Möglichkeiten: entweder bekommen wir z.B. (a) € 5 Million geschenkt oder es wird uns (b) ein Glücksspiel angeboten, bei dem eine Münze geworfen wird, und je nach Ergebnis erhalten wir entweder gar nichts oder € 10 Millionen.

Betrachten wir einmal Fall (b) genauer: Die Wahrscheinlichkeit zu gewinnen ist gleich groß wie die Wahrscheinlichkeit zu verlieren, also 50:50. Allerdings nützt die Kenntnis dieser Wahrscheinlichkeit im Einzelfall nicht übermäßig viel, denn rein statistisch beträgt der durchschnittliche Gewinn zwar genau € 5 Millionen, aber ob nun im Einzelfall ein Gewinn von null oder von 10 Mio. herauskommt, lässt sich nicht sagen. Wiederholt man dieses Spiel aber unendlich oft, dann wird man ziemlich genau in der Hälfte der Fälle gewinnen und in der anderen Hälfte der Fälle leer ausgehen, sodass sich eben ein rechnerischer Gewinn von den genannten € 5 Million ergibt. Je öfter nun das Spiel wiederholt wird, desto wahrscheinlicher wird man im Durchschnitt diesen erwarteten Betrag von 5 Million erhalten. Für den einzelnen Spieler kann das Ergebnis also erheblich schwanken, für die Spielbank in der großen Anzahl der Wiederholungen wird es aber recht gut vorhersehbar.

Wenn jemand vollkommen neutral in Bezug auf Risiko eingestellt ist – also weder um jeden Preis jedes auch noch so kleinste Risiko vermeiden möchte, noch bewusst das Risiko nur um des Nervenkitzels willen sucht –, dann ergibt sich daraus ein interessantes Verhalten, dass die meisten Menschen auch gefühlsmäßig nachvollziehen können. Fast alle Menschen würden sich nämlich im genannten Fall (entweder sichere € 5 Millionen oder ein Glücksspiel zwischen null und € 10 Millionen mit einer Fifty-fifty Chance) für die sicheren €5 Millionen entscheiden. Wer das aus irgendwelchen Gründen nicht glauben sollte, kann für sich gerne das Gedankenexperiment auch mit größeren Beträgen, zum Beispiel € 10 Milliarden durchführen. Wer dann noch behauptet, sich lieber auf das Glücksspiel einzulassen anstelle von sicheren € 5 Milliarden, mit denen man sich wohl das ganze Leben lang viel mehr leisten könnte, als man je ausgeben kann, rückt schon mehr als nur bedenklich nahe an die Spielsucht.

Die Ökonomie erklärt dieses Phänomen auch damit, dass Geld wie fast alle anderen Dinge im Leben auch, einen sogenannten „abnehmenden Grenznutzen“ aufweist: je mehr Geld man hat, desto weniger ist einem subjektiv ein weiterer Euro wert. Daher wäre es in der Entscheidungssituation des Beispiels auch vollkommen rational, lieber sichere € 5 Millionen zu behalten, als mit jeweils gleicher Wahrscheinlichkeit € 5 Millionen zu verlieren oder € 5 Millionen dazu zu gewinnen. Die zusätzlich lachenden € 5 Millionen sind einfach subjektiv weniger wert als jene € 5 Millionen, die man dabei gedanklich verlieren könnte. Oder anders gesagt: auch bei gleicher Wahrscheinlichkeit bringt die Abweichung nach oben weniger als die gleich große Abweichung nach unten an Schaden verursacht.

Aus dem hier dargestellten Beispiel wird klar, dass ein sicherer Geldbetrag offensichtlich subjektiv mehr wert ist als ein ebenso hoher Geldbetrag, der aber unsicher ist. Daher kann man versuchen, jenen sicheren Geldbetrag auszurechnen, der den gleichen subjektiven Wert wie ein unsicherer Geldbetrag hat. Diese Größe wird „Sicherheitsäquivalent“ genannt und hängt hauptsächlich von den Wahrscheinlichkeiten unterschiedlicher Geldbeträge (also der Verteilung möglicher Ergebnisse) sowie der subjektiven Einschätzung des Nutzens unterschiedlicher Geldbeträge ab.

Das hier dargestellte Faktum ist in der Ökonomie schon lange Zeit als „Erwartungsnutzentehorie“ bekannt und bildet die Grundlage für die Theorie der Versicherung. Indem sehr viele Menschen in einen Topf bei einer Versicherung einzahlen und somit in Form ihrer Prämienzahlungen eine Art „sicheren laufenden Schaden“ haben, vermeiden Sie das Risiko eventuell eintretender, dann aber viel höherer Schäden. In Summe werden dabei sowohl die Versicherten bessergestellt (weil ja die Sicherheit an sich einen Wert darstellt und daher die bezahlten Prämien weniger schmerzen als der Gewinn an Sicherheit) als auch Gewinne für die Versicherung möglich (da die Prämie etwas höher angesetzt werden kann als rechnerisch dem durchschnittlichen Schaden entspricht).

Unternehmertum ist Risikoübernahme

Übertragen auf das Unternehmertum bedeutet das nun folgendes: wenn die Umsätze des Unternehmens schwanken, schwanken auch die Einkünfte des Unternehmers. Der Unternehmer fängt in gewisser Weise die Schwankungen des Unternehmensergebnisses auf, in dem sein Gewinn jene Größe ist, die nach Bezahlung der Beschäftigten und des Materials etc. übrigbleibt. Auf der anderen Seite ändern sich die Einkünfte der unselbstständig Beschäftigten aber kaum, da diese in den Arbeitsverträgen bzw. auf Basis der Kollektivverträge festgelegt sind und in der Regel nicht vom unternehmerischen Erfolg direkt abhängen.

Einkommensverlauf
Einkommensverlauf

Unternehmer sind also mit deutlich schwankendem Einkommen konfrontiert und fangen damit in gewisser Weise die wirtschaftlichen Schwankungen des Unternehmens ab. Die unselbstständig Beschäftigten auf der anderen Seite werden so gewissermaßen von den Arbeitgeberbetrieben versichert, da deren Einkommen großteils bereits im Vorhinein feststeht und keinen nennenswerten Schwankungen unterliegt.

Diese Versicherungsfunktion der Unternehmen führt dazu, dass der sprichwörtliche Kuchen für die Arbeitnehmer größer wird – denn eine betragsmäßig sichere Gehalts- oder Lohnzahlung hat einen höheren Wert als Einkünfte, die zwar durchschnittlich gleich hoch sind, aber Schwankungen unterliegen.

Beitrag der Unternehmer durch Risikoübernahme wird nicht vom Markt honoriert

Es wäre nun naheliegend anhand der Einkommensdaten von Selbstständigen und Unselbstständigen zu berechnen, welchem sicheren (niedrigeren) Einkommen die schwankenden Einkünfte der selbstständig Erwerbstätigen entsprechen und diese mit dem durchschnittlichen Einkommen der unselbstständig Erwerbstätigen zu vergleichen. Auf einem idealtypischen, voll funktionsfähigen Markt müssten diese beiden Beträge theoretisch gleich sein, da es eine Art Abgeltung für die Risikoübernahmefunktion der Unternehmer geben müsste. Abgesehen von Schwierigkeiten der Datenverfügbarkeit (korrekte Erfassung aller selbstständigen Einkünfte inklusive Gewinnausschüttungen bei Kapitalgesellschaften aber exklusive nicht unternehmerischer Einkunftsarten, Unschärfen unter der Mindestbeitragsgrundlage und über der Höchstbeitragsgrundlage der Sozialversicherung sowie bei Einkünften, die aufgrund ihrer geringen Höhe nicht der Steuerpflicht unterliegen, Berücksichtigung von Gewinnausschüttungen von Kapitalgesellschaften bei geschäftsführenden Gesellschaftern, Abgrenzung von Arbeitgeberbetrieben gegenüber ein Personen Unternehmen, …) würde diese Übung aber kein brauchbares Ergebnis liefern: die durchschnittlichen Einkünfte der Selbstständigen liegen nämlich unter jenen der Unselbstständigen.

Nach dem Einkommensbericht 2016 (Rechnungshof/Statistik Austria) liegt das mittlere Bruttojahreseinkommen (Median) für das Jahr 2015 bei unselbstständig Erwerbstätigen (ohne Lehrlinge) bei € 26.678, bei den ausschließlich ganzjährig Vollzeitbeschäftigten bei € 39.812. Inklusive Lehrlingen und Teilzeitbeschäftigungen beträgt das mittlere Einkommen bei den unselbständig Erwerbstätigen € 20.116. Demgegenüber erzielen ausschließlich selbstständig tätige Personen (immerhin 333.115 Personen) im Jahr 2013 (das ist die aktuellste verfügbare Statistik) nur € 11.388 (inkludiert man auch Pensionisten und gemischt selbstständig und unselbstständig Erwerbstätige Personen, so liegt der Vergleichswert ebenfalls bei vergleichsweise niedrigeren € 22.183). Einige weitere Details finden sich in der Tabelle unten (Q: Rechnungshof/Statistik Austria, 2016).

Methodisch macht es daher wenig Sinn, einen Vergleich zwischen unselbständigen und selbständigen Einkommen im Sinne einer Korrektur um die Unsicherheit des Einkommens vorzunehmen. Inhaltlich wäre es auch zweifelhaft, die unterschiedlichen Gruppen von Erwerbstätigen einander gegenüberzustellen, da die Wertschöpfung (und somit die Quelle des Wohlstandes) in betrieblichen Strukturen gemeinsam von Arbeitgebern und Arbeitnehmern erwirtschaftet wird. Daher erfolgt im nächsten Schritt von diesem Vergleich losgelöst eine beispielhafte Abschätzung, um wie viel „der Kuchen“ durch die Risikoübernahme der Unternehmen für die Beschäftigten größer wird.

Abschätzung der Größenordnungen der „Versicherungsfunktion“

Überträgt man in einem Gedankenexperiment die Schwankungen der Einkünfte der Selbstständigen auf die unselbstständig Erwerbstätigen und berechnet das oben dargestellte „Sicherheitsäquivalent“, so kann man grob abschätzen, welchem Geldbetrag diese Sicherheit der unselbstständigen Einkommen entspricht, weil die Unternehmer Schwankungen der Ertragslage ausgleichen und nicht an die Beschäftigten weitergeben. Es wird also eigentlich der hypothetische Fall, dass Löhne und Gehälter aller Beschäftigten im gleichen Ausmaß wie die Einkommen der Selbständigen an die wirtschaftliche Situation des Unternehmens angepasst werden und diese daher das unternehmerische Risiko in gleicher Weise mit allen Chancen, aber auch Risken, mittragen verglichen mit der realen Situation, in der die Löhne und Gehälter unabhängig vom Unternehmensergebnis ausbezahlt und betraglich unverändert gehalten werden.

Unter den getroffenen Annahmen lässt sich der Wert dieser Sicherheit bei den unselbstständig Beschäftigten mit rund 3,5 % des tatsächlich ausbezahlten Bruttoeinkommens ermitteln. Dies entspricht somit einem Betrag von etwas mehr als € 1.000 brutto jährlich je Beschäftigten. Für das Bundesland Niederösterreich tragen die Unternehmer somit durch die Stabilisierung der unselbstständigen Einkünfte mit rund € 640 Millionen zusätzlich zum Wohlstand bei, da die Stabilität der unselbstständigen Einkünfte der Beschäftigten für diese einen zusätzlichen Nutzen bringt. Anders ausgedrückt: die Bereitschaft der Unternehmer, unternehmerisches Risiko und damit schwankende Einkommen auf sich zu nehmen und im Gegenzug betraglich kaum schwankende Löhne und Gehälter auszuzahlen, wirkt allein in Niederösterreich wie eine Versicherungsleistung für die Beschäftigten mit einem Wert von über einer halben Milliarde EUR jährlich. Damit wird deutlich, dass selbständige und unselbständige Arbeit komplementäre Aspekte im Wirtschaftsprozess darstellen und dass nur im Zusammenspiel beider Komponenten das gesamte Potenzial bestmöglich ausgeschöpft werden kann – gemeinsam wird der Kuchen größer!

Anmerkungen: Für die hier dargestellte quantitative Abschätzung wurde eine Einkommenselastizität des Grenznutzens von 1,26 angenommen sowie eine Standardabweichung der selbstständigen Einkommen von 2290. Dabei handelt es sich um Werte aus der Literatur bzw. eine Schätzung der Einkommensvariabilität anhand einer Hochrechnung aus 200 Unternehmensdatensätzen sowie statistischen Daten über die Einkommen der Selbständigen. Die Einkommensvariabilität ist aufgrund von nur eingeschränkter Datenverfügbarkeit bzw. -qualität nur schwer zu ermitteln und wird sehr vorsichtig angenommen, da insbesondere negative Werte des Einkommens (Verluste) in der Analyse abgeschnitten und auf null gesetzt werden. Die ermittelten Ergebnisse bewegen sich daher deutlich am unteren Ende der anzunehmenden Effekte und verstehen sich als eine erste grobe Abschätzung der zahlenmäßigen Dimensionen. Es wurde in den Simulationen ein Zeitraum von 20 Jahren berücksichtigt sowie der Mittelwert aus 5 stochastisch-dynamischen Szenarien ermittelt. In den simulierten Szenarien ergeben sich Werte für den Wert der Sicherheit im Intervall von 2,03% bis 7,16%.